DER ONLINE-HANDEL WÄCHST UND WÄCHST, ABER WER HAT DIE NASE VORN?
nachstehender Beitrag wurde im Swiss IT Magazine Mai 2016 abgedruckt (hier geht es zur pdf Version).
WER GEWINNT DAS RENNEN?
2015 war nicht das einfachste Jahr für den Schweizer Handel. Gerade den stationären Handel haben die Folgen vom 15. Januar 2015 unter Druck gesetzt. Diverse Schliessungen von Schweizer Textil-Händlern waren mitunter die Folge der Kursfreigabe. Aber auch im Online-Handel wirft immer wieder jemand das Handtuch. Vor allem für kleinere Unternehmen nimmt der Margendruck bei vergleichbaren Gütern mit steigendem Anteil des Online-Handels konstant zu. So ist es auch hierzulande schwieriger geworden mit dem Handel Geld zu verdienen – und der E-Commerce-Bereich wird davon nicht ausgenommen bleiben.
Und trotzdem darf der eidgenössische Online-Handel im Grossen und Ganzen von einem positiven Jahr 2015 sprechen. Denn trotz allem wuchs der Schweizer Versandhandel, inklusive Online-Auslandseinkäufe, um 500 Millionen Franken auf 7,2 Milliarden Franken. Dies entspricht einem Plus von rund 7,5 Prozent gegenüber 2014, in dem 6,7 Milliarden Franken umgesetzt wurden. Auch entgegen der Gesamtentwicklung im Schweizer Detailhandel, der 2015 mit insgesamt 95,4 Milliarden Franken rund 2,5 Prozent weniger umsetzte als noch 2014, konnte der E-Commerce-Bereich nochmals kräftig zulegen. Zum Vergleich: In den letzten fünf Jahren sind die Umsätze im stationären Handel Schweiz um 2,5 Milliarden Franken gesunken, während der Online-Versandhandel in der Schweiz um 1,8 Milliarden Franken zugelegt hat. Dementsprechend müsste inzwischen auch der letzte Zweifler verstanden haben, dass das Online-Handelswachstum kaum mehr Grenzen kennt, auch keine geographischen. Mittlerweile werden 15 Prozent der Schweizer Online-Einkäufe im Ausland getätigt. Und die Tendenz ist weiterhin stark steigend.
HEIMELEKTRONIK FEST IN SCHWEIZER HAND
In der Vergangenheit haben verschiedene Experten aus dem Retail-Bereich immer wieder versucht den Online-Boom als temporäres Phänomen abzustempeln. Die Stellungnahmen haben sich jedoch in den letzten zwölf Monaten gewandelt. Inzwischen weisen verschiedene Entwicklungen darauf hin, dass nun auch im Schweizer Detailhandel der Tipping-Point erreicht wurde und der Online-Versand absolut stärker wächst als der stationäre Handel. Nominal ist im Gesamtmarkt des Detailhandels kein oder nur noch marginales Wachstum zu erwarten. Zumal in vielen Segmenten des Non-Food-Versandhandels seit Jahren ein Rückgang des Preisniveaus und der Umsätze beobachtet wird. Der Verband des Schweizerischen Versandhandels geht davon aus, dass dies auch die nächsten Jahre der Fall sein wird und sich die Ausschläge noch weiter verschärfen werden. Leider dürfte die Erkenntnis von vielen etablierten stationären Anbietern zu spät erfolgt sein und fast ist man diesen Nachzüglern geneigt zu sagen: „Bitte nicht mehr auf den fahrenden Zug aufspringen, er fährt schon zu schnell“.
So geht mittlerweile über ein Viertel des gesamten Heimelektronik-Umsatzes in der Schweiz auf den Onlinehandel zurück. Im Jahr 2015 konnte der Versandhandel im Heimelektronik-Markt um fast 200 Millionen Franken zulegen. Damit ist dieser Bereich für 40 Prozent des gesamten Heimelektronik-Marktwachstums verantwortlich und umsatzmässig das stärkste Sortiment im Online-Versandhandel – auch wenn stückmässig immer noch am meisten Textilien verkauft werden.
Der Heimelektronik-Online-Versandhandel ist dabei mit Akteuren wie Digitec, Brack, Microspot, Interdiscount oder Steg fest in Schweizer Hand. Gerade der Heimelektronik-Markt scheint mit diversen Schweizer Anbietern für ausländische Online-Händler fast uneinnehmbar. Es gibt zwar noch ein paar wenige protektionistische Helferlein welche den Markt schützen – unter anderem die Schweizer Steckdose. Im Grossen und Ganzen aber zeigt das Heimelektronik-Segment exemplarisch, dass Wettbewerb funktioniert und sich Schweizer Anbieter im Heimmarkt behaupten können. Das Preisniveau bei Bestsellern ist tief und vergleichbar mit den Preisführern in Deutschland. Entsprechend niedrig ist das Bedürfnis der Kunden im Elektronik-Bereich etwas im Ausland online einzukaufen.
In den kommenden Jahren wird es spannend zu beobachten sein, wie die alten Retail-Dominatoren wie Melectronics, Media Markt und Interdiscount mit dem rasanten Online-Wachstum im Bereich Heimelektronik umgehen werden. Der Verband des Schweizerischen Versandhandels geht davon aus, dass sich das Online-Wachstum weiter beschleunigen wird und in wenigen Jahren von 40 bis 50 Prozent Online-Anteil im Segment Heimelektronik berichtet werden kann. Als Konsequenz müsste diese Veränderung der Beschaffungsgewohnheiten auch in erkennbarer Flächenreduktion und Konzeptanpassungen der heute noch dominierenden Anbieter münden.
Dabei ist anzunehmen, dass der Online-Heimelektronikmarkt unter wenigen Anbietern aufgeteilt wird und vor allem für kleinere Händler die Luft immer dünner wird. Es wird darum ausserdem spannend zu beobachten sein, welcher heute stationär-starke Player auch in fünf Jahren noch eine tragende Rolle spielen wird. Marktchancen ergeben sich wie immer in der Nische, gerade bei Heimelektronikzubehör und Gadgets scheint die Welt margenmässig immer noch in Ordnung zu sein, wobei auch hier die Entwicklung der Direktimporte von ausländischen Dominatoren wie Amazon oder Aliexpress beobachtet werden muss.
VORREITER LESHOP UND COOP@HOME
Im Gegensatz zur Heimelektronik-Sparte fristet der Onlinehandel mit Nahrungsmitteln ein Mauerblümchendasein. Wobei 2015 trotzdem ein Online-Wachstum verzeichnet wurde. Dieses ist mit rund 840 Millionen Franken jedoch weit entfernt von der Entwicklung des gesamten Non-Food Sortiments, welches im vergangenen Jahr 4,46 Milliarden Franken Umsatz gemacht hat.
Im Online-Handel mit Essen profitieren Anbieter aufgrund von Zollhürden immer noch von einem ausgeprägten Schutz gegenüber ausländischen Anbietern. Trotzdem oder gerade deshalb haben sich in der Schweiz Vorreiter wie Leshop, Coop@home, Nespresso oder auch Farmy entwickeln können. Nespresso hat mit dem Direktvertriebsmodell die Zukunft bereits vor rund 15 Jahren angefangen zu schreiben und ist heute als eigentlicher Omni-Channel Champion im Markt aufgestellt. Via Online-Versandhandel und seit ein paar Jahren auch in den Boutiquen hat sich das Unternehmen den direkten Weg von der Produktion zum Konsumenten gesichert und trägt signifikant zum hohen Online-Anteil Food bei.
Aber auch der gesunde und sportliche Wettbewerb zwischen den beiden Migros- und Coop-Unternehmen lässt immer wieder Experten aus ganz Europa auf die Entwicklungen des Food-Onlinehandels in der Schweiz schielen. Mit unbändigem Elan und ausgeprägten Testanlagen machen Leshop und Coop@home die Schweiz Schritt für Schritt zu einem Online-Food Land.
Nicht zu vergessen sind dabei die vielen kleinen Initiativen, welche Schweizer Bauer, Metzger, Bäcker und andere Kleingewerbe den Online-Konsumenten zugänglich machen. Herausragend in der Idee und Umsetzung ist unter anderem das junge Label Farmy.
LEIDWESEN TEXTILBEREICH?
Wenn man aber die Gesamtentwicklung des Non-Food-Detailhandels anschaut – inklusive dem stationären Handel – dann lässt sich eine Phase der Veränderungen erkennen, sei das für Fashion, Beauty, Wohnen oder auch Sport und Freizeit. So konnte der Textilbereich 2015 online nominal nur um rund 40 Millionen Franken zulegen. Grund für diese Entwicklung sind auch in diesem Falle die Preisanpassungen nach der Euro-Freigabe im Januar 2015.
Aber schon der traditionelle Versandhandel mit Textilien in der Schweiz beanspruchte immer einen recht ansehnlichen Anteil am Gesamtkuchen. So lag bereits im Jahr 2000 der Versandhandelsanteil Fashion bei etwa zehn Prozent des Gesamtmarktes. Trotzdem wurde er damals aber als Nische mit wenig Entwicklungspotential kaum beachtet. Mit dem Markteintritt von Zalando und anderen Anbietern hat sich die Situation schlagartig verändert und in den letzten fünf Jahren ist der Online-Anteil Fashion kontinuierlich angestiegen. Ein Ende ist nicht in Sicht. Leider konnte aber davon kein Schweizer Anbieter nennenswert profitieren, manche Experten sprechen gar von einem Verschlafen der Branche. Zudem ist zum Leidwesen des Schweizer Handels anzunehmen, dass schon seit über zehn Jahren 60 bis 70 Prozent der Textilien bei Unternehmen mit ausländischen Wurzeln gekauft werden. Und in den letzten zehn Jahren sind einige Schweizer Textil-Händler ganz verschwunden oder in ausländischen Händen aufgegangen. Noch aktive Schweizer Anbieter wie beispielsweise PKZ, Manor, Schild oder Charles Vögele konnten vom boomenden Online-Handel im Textil-Bereich bislang nicht substantiell profitieren. Gewachsen sind seit Jahren ausländische Anbieter wie H&M, C&A oder Zara und seit wenigen Jahren auch Zalando. Auch im Online-Zeitalter hat es kein massentaugliches Format aus der Schweiz international geschafft. Demgegenüber nutzen Schweizer Textil-Labels wie Freitag, Mammut oder Strellson den E-Commerce sehr gut und vertreiben ihre Produkte auch International mit grossem Erfolg.
Auch der Bereich Möbel ist nach wie vor ein Sortiment mit hohem Online-Potential, aber auch mit hoher Abwicklungs-Komplexität. Kleinmöbel, Accessoires und Küchenbedarf sind für den Online-Versandhandel prädestinierte Artikel. Grossmöbel wie Sofas oder Schränke beziehungsweise sogenannte Zwei-Mann-Zustellungssortimente hingegen, bringen immer noch eine logistische Herausforderung bei hohen Prozesskosten mit sich. Eigentlich wären die bereits mit guter Logistik und Abholkonzepten aufgestellten Unternehmen, wie Möbel Pfister, Micasa, Ikea oder Interio, ideal für den Online-Versandhandel vorbereitet. Sie nutzen ihr Potential aber noch zu wenig. Der Online-Möbelmarkt dürfte sich in den nächsten Jahren noch stark verändern.
SCHWEIZ UNTER GLOBALER KONKURRENZ
Der nüchterne Blick auf die Entwicklung des Handels zeigt auch, dass der Online-Auslandseinkauf prozentual überproportional ansteigt. Der Auslandskonsum ist 2015 um 200 Millionen Franken angestiegen und macht damit 40 Prozent des Wachstums des Online-Handels in der Schweiz aus. Der digitale Konsument ist sich heute nicht mehr zu schade, Ware von überall auf der Welt her zu bestellen. Die Auslandseinkäufe wachsen rasant. Geografische oder psychologische Grenzen scheinen beim Online-Einkauf zu verschwinden und der technologische Fortschritt lässt bei den Anbietern wie Aliexpress oder Amazon schon fast ein Einkaufserlebnis wie bei Zalando oder Digitec aufkommen. Einzige Beeinträchtigung ist die tiefe Liefergeschwindigkeiten, welche dann und wann zum Ärgernis werden kann. Positiv wiegen dafür Preise und Verfügbarkeiten spezifischer Produkte. Konsumenten trauen sich je länger je mehr, direkt in einem anderen Land etwas einzukaufen. Damit wächst der Druck auf Schweizer Händler.
In wenigen Worten zusammengefasst: Die Schweizer Preisinsel dürfte im Non-Food-Handel der Vergangenheit angehören. Der Konsument sitzt heute am langen Hebel und bedient diesen ohne Rücksicht auf Kostenstrukturen oder gesetzliche Regulierung.
BLICK IN DIE KRISTALLKUGEL
Online verkaufen ist per se also keine Erfolgsgeschichte mehr. Die reine Online-Schaufenster-Gestaltung, ergo einfach einen Online-Shop anzubieten, mag vor zehn Jahren erfolgversprechend gewesen sein. Heute sind Bestleistungen in Beschaffung, Logistik, Technologie und auch Direktmarketing notwendig, um nur den Hauch einer Chance auf Erfolg zu haben. Wohlgemerkt, beschrieben wird hier die Kombination zwischen Präsentation, Logistik, Technologie und Direktmarketing. Nur schon der Verzicht auf eines dieser Elemente, kann den Erfolg einer E-Commerce-Plattform stark beeinträchtigen. Diese Elemente implizieren auch, dass der Online-Handel im Vergleich zu den Anfängen viel teurer geworden ist. Nicht nur die dauernde technologische Veränderung verursacht hohe Kosten, auch der Zugang zum Konsumenten – kommunikativ wie logistisch – wird immer teurer.
Logistisch wird in den nächsten Jahren nochmals eine Tempoverschärfung erwartet und es ist davon auszugehen, dass wir bald die ersten regelmässigen Lieferungen in Zeitfenstern von einer bis drei Stunden erleben dürfen.
Auch die Anzahl der Kommunikationskanäle und –varianten wird sich weiter erhöhen und jedes Unternehmen vor neue Herausforderungen stellen. Reine Online-Kommunikation dürfte kaum ausreichen. Der Einsatz von Offline-Kommunikation, wie beispielsweise Fernsehen, Radio, Plakat, oder Print, wird weiterhin notwendig sein, um den Konsumenten im Moment X auf sich aufmerksam zu machen. Dementsprechend werden die Kosten weiter steigen, um die Aufmerksamkeit der Kunden auf das eigene Online-Angebot zu lenken.
Darüber hinaus ist anzunehmen, dass sich der Händlermarkt in der Schweiz nochmals stark verändern wird. So dürften pro Sortiment weniger, dafür umso mächtigere Massenanbieter den Markt prägen und in erster Linie die Kundenbeziehung dominieren. Solche Händler arbeiten mutmasslich immer stärker in Form von Markplätzen. Das heisst, sie versuchen vor allem im Longtail das Warenrisiko an Hersteller oder kleinere Händler zu delegieren und die grossen Mengen selber abzusetzen.
Daneben ist zu erwarten, dass es eine extreme Spezialisierung von Händlern geben wird. Immer mehr Anbieter werden sich auf Nischen fokussieren und in solchen Nischen aber mit einer unglaublichen Fachkompetenz und Sortimentstiefe jeden Kundenwunsch erfüllen können. Auch hierfür sehen wir in der Schweiz ein schönes Anschauungsbeispiel: Die Swiss-Commerce.ch in Langenthal exerziert seit zwei Jahren die serielle Nischenproduktion von hochspezialisierten Online-Shops und nutzt konsequent Synergien in Backoffice und Logistik, differenziert aber konsequent in der Zielgruppenansprache. Hoffentlich wird der eidgenössische Versandhandel noch viel Freude an dieser industriellen Logik des neuen Handels haben – denn industrielle Optimierung können wir Schweizer ja bekanntlich recht gut.