Paketlawine statt Postkutsche

Nachstehender Beitrag wurde im Magazin unserer Kollegen des handelsverband.at publiziert. Wir dürfen den Artikel mit Erlaubnis des Handelsverbands hier im Originaltext wiedergeben – ein herzliches Dankeschön nach Österreich! Wir können diese Aussagen, Erfahrungen und Forderungen 1:1 unterstreichen – die Ausmasse in der Schweiz sind aufgrund der ausgeprägteren Freigrenzen einfach noch etwas dramatischer.

 

Das Jahr 1874

Auf dem Weltpostkongress in Paris wird der Weltpostvertrag unterzeichnet. Er regelt, wie nationale Postgesellschaften internationale Sendungen behandeln, und ersetzt damit unzählige Einzelvereinbarungen. Die Postdienste hatten sich in den Jahrzehnten davor rasant weiterentwickelt: Zwar wurden immer noch die meisten Briefe und Pakete per Postkutsche befördert, doch wo Eisenbahnschienen verlegt waren, konnten lange Distanzen nun viel rascher überbrückt werden. Briefmarken und Postkarten waren noch junge Erfindungen, aber schon weit verbreitet – die ersten Telefonanschlüsse in Wien entstanden dagegen erst Jahre später. Heute kennt man Postkutschen nur mehr aus dem Museum, auch die Zeiten der Bahnpost sind vorüber. Briefe haben in der Kommunikation nur mehr eine Nebenrolle, dafür bewegt sich eine vom Onlinehandel ausgelöste Paketlawine per Jumbo-Jet oder Containerschiff um den halben Erdball. Der Weltpostvertrag ist noch immer in Kraft, doch der Zahn der Zeit hat erheblich an ihm genagt – das Schriftstück sorgt deshalb mittlerweile für Frustration gleich an mehreren Fronten.

Trump tobt

Da wäre zunächst der US-Präsident Donald Trump, der aus dem Völkerrechtsvertrag gleich ganz aussteigen will. „Dieses System führt zu höheren Versandkosten für amerikanische Exporteure“, erklärte ein Regierungsvertreter Mitte Oktober. Die Vereinbarung sei unfair gegenüber Unternehmen und Verbrauchern in den USA. Sie koste die US-Post jährlich 300 Millionen Dollar, so die Berechnung der Regierung in Washington. Trump sieht daher nur eine mögliche Konsequenz –raus aus dem globalen Abkommen. Ganz so radikal wird das in Europa nicht gesehen, aber: Auch diesseits des Atlantiks hält die Kritik an der Unausgewogenheit des Weltpostvertrags an. „Diese Vereinbarung ermöglicht chinesischen Online-Händlern aufgrund einer Anpassung aus dem Jahr 1969, ihre Pakete zu stark reduzierten Versandpreisen in die EU oder die USA zu schicken und dortige Wettbewerber preislich zu unterbieten“, sagt Rainer Will, Geschäftsführer des österreichischen Handelsverbands. Die Interessenvertretung kämpft schon lange auf Seiten der heimischen Wirtschaftstreibenden, die von der Konkurrenz aus China zusehends in die Enge getrieben werden.

Schwellenland-Bonus

Das hat damit zu tun, dass das Reich der Mitte im Weltpostvertrag immer noch als Entwicklungs- und Schwellenland betrachtet wird, dementsprechend also Vorteile genießt, die den wirtschaftlichen Anschluss an den Rest der Welt beschleunigen sollen. Dass China seine Waren billiger verschicken darf als andere, hat dem Land über Jahrzehnte einen enormen Vorteil verschafft – der sich mittlerweile hin zur Übervorteilung gewandelt hat. Das ist dem Weltpostverband auch nicht verborgen geblieben: Mit 1. Jänner 2018 wurden dem Weltpostvertrag neue Brieftarife verpasst. Konkret kostet der Versand eines Kleinpakets oder eines Briefs aus China aktuell rund 1,15 Euro. „Das ist zwar um 13 Cent mehr als noch im letzten Jahr“, sagt Rainer Will, „liegt aber immer noch 50 bis 60 Prozent unter den Kosten für heimische Händler – mit ein Grund, warum heute ganz Europa von der Paketlawine aus Asien überrollt wird.“ Die Paketlawine, das sind 560 Millionen Brief- und Paketsendungen, die jährlich allein von China in die Europäische Union wechseln. Laut Recherchen des Handelsverbands sind 2017 satte 97 Prozent dieser Postsendungen ohne Zollgebühren und Mehrwertsteuer über die Grenzen gewandert. Das hat zum einen damit zu tun, dass die chinesischen Händler die sogenannte „De-Minimis- Regel“ geschickt ausnutzen: Produkte unter einem Wert von 22 Euro werden von der Mehrwertsteuer nicht erfasst – und bei mehreren 100 Millionen Paketen im Jahr tut sich der Fiskus auch schwer, die Wertangaben jeder einzelnen Sendung zu überprüfen. „Wir empfehlen daher die Abschaffung der EU-Einfuhrumsatzsteuer-Freigrenze von 22 Euro – sofort, und nicht erst wie angekündigt am 1. Jänner 2021. Außerdem
fordern wir die Erfassung jeder Sendung durch ein EU-Versandmeldesystem“, sagt Will. Bei einem Verstoß solle es eine sofortige Verkaufssperre des jeweiligen Händlers für den österreichischen Markt sowie eine unmittelbare Meldung an die EU-Finanzbehörden geben. Als weitere Konsequenzen legt der HV-Geschäftsführer Finanzstrafverfahren wegen Steuerhinterziehung und die nachträgliche Einhebung der nicht entrichteten Steuerschuld zuzüglich einer EU-Steuerpönale nahe.

EU kämpft gegen Zollbetrug

Und dann bleibt noch die Sache mit dem Zoll, der ebenfalls von einem Großteil der chinesischen Händler umschifft wird. Denn nur ab einem Warenwert von 150 Euro fallen innerhalb der EU Zollabgaben an. Falschdeklarationen sind also vorprogrammiert, die Summen, die den Staaten so entgehen, werden in die Milliarden geschätzt. Direkt betroff en von dieser Problematik ist in Österreich die Post. Sie steht an vorderster Front in Zollangelegenheiten und arbeitet eng mit den österreichischen Behörden zusammen. Verbesserung soll der Unionszollkodex bringen, der EU-weit erstmals einheitliche Richtlinien in Zollverfahren ermöglicht – und technische Neuerungen im Kampf gegen den Zollbetrug: „Wir bereiten uns gerade intensiv darauf vor, automatisierte und umfangreiche Datenübermittlung in die Zollabwicklung zu implementieren. Die hohen Sendungsmengen aus China stellen uns da vor große Herausforderungen“, sagt David Weichselbaum, ein Pressesprecher der Österreichischen Post AG.

Elektronik in der Unterwäsche

Wie diese Herausforderungen konkret aussehen können, weiß eCommerce-Experte Martin Füll zu berichten: „Wir wissen, dass ganz viele Güter falsch deklariert werden. Die einfachste Variante ist, einfach den Warenwert auf der Rechnung zu senken und damit Steuer zu hinterziehen. Ein weiterer Klassiker: Handyzubehör wird vor dem Versand einfach in Unterwäsche eingewickelt und so in das Päckchen gesteckt. Auf der Warendeklaration scheint nur der Kleidungsartikel auf, die Elektronik reist zollfrei mit. Und der Kunde freut sich zusätzlich noch über eine Gratis-Unterhose“, sagt der Geschäftsführer der Consultingfi rma Commerce Logistics Specialists (CLS) und der Osteuropa-Versandplattform Paketa.de. Das Unternehmen berät grenzüberschreitende Handelstreibende in Zoll- und Mehrwertsteuerfragen. Füll sieht die Postdienstleister selbst in der Verantwortung, zu wenig gegen die Falschdeklarationen getan zu haben. Weil 80 Prozent der Warensendungen aus China über den Postweg und über die einfachere und billigere Postverzollung und nicht über den normalen Zollweg in die EU kommen, hätten die Postdienstleister über die letzten Jahre gut profi tiert – und nur wenig Grund gehabt, am für sie einträglichen Status quo etwas zu verändern. „Sie haben an den großen Sendungsmengen gut verdient, auch auf Kosten der heimischen Händler. Die haben sich erfolgreich in Brüssel gewehrt, denn die Befreiung von der Umsatzsteuer fällt ab 1. Jänner 2021 weg“, sagt Füll. Damit verlieren die chinesischen Händler ihren Kostenvorteil in Höhe der Mehrwertsteuer, in Österreich 20 Prozent, auf einen Schlag – bei den Spannen im Handel keine Kleinigkeit.

Regionalität ist gefragt

Und dennoch glaubt Füll nicht, dass diese Entscheidung der europäischen Finanzminister viel an der Dominanz der chinesischen Online-Händler in Europa ändern wird: „Ich sage ganz off en, auch wenn die Chinesen Vorteile wie Umsatzsteuerfreigrenze und billigere Postsendungen verlieren, sie werden sich dieser Situation problemlos anpassen. Mag sein, dass ihre Produkte dann ein paar Prozent teurer werden, aber sie haben dennoch weiterhin enorme Kostenvorteile.“ Dazu komme, dass die Chinesen erst jetzt dazulernen würden, sich „europäischer“ zu verhalten. Damit meint Füll die wachsende Anzahl an chinesischen Shopping-Portalen im Internet, die sich des hierzulande gewohnten Look-and-Feels bemächtigen. Über 40 Prozent der Händler auf amazon.de sind bereits aus China. Das einzig wirksame Mittel, um als heimischer Händler dem Druck standzuhalten, ist seiner Meinung nach folgendes: „Wirklich bestehen kann nur, wer mit Mehrwert oder regionaler Besonderheit etwas anbieten kann, das die Chinesen nicht kopieren können.“ Zumindest haben die österreichischen Händler noch etwas Zeit, sich dem digitalen Wandel anzupassen, denn der stationäre Handel ist nach wie vor dominant und geht hierzulande merkbar langsamer in Richtung Einkauf im Web als anderswo. „Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis auch wir eine massive Verschiebung Richtung Online – und Mobile-Shopping erleben. Allein zwischen 2006 und 2016 ist die Zahl der heimischen Geschäfte um 10.000 gesunken“, sagt Rainer Will. Auch er hat ein Rezept, um sich den neuen Gegebenheiten anzupassen: „Die Antwort liegt in der Digitalisierung der Fläche. Dafür braucht es Investitionen – in Strukturen, Prozesse, IT-Systeme, in die Datenqualität und vor allem in gute Mitarbeiter.“ Diese Investitionen machen aber erst dann Sinn, wenn alle Wettbewerbsvorteile der Chinesen aufgehoben sind. Und das wird noch dauern – wenn auch hoffentlich keine weiteren 144 Jahre.

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