Ode an den Milchkasten – Müssen wir den Milchkasten neu „formatieren“?

Milchflasche

Letzthin hat Jochen Krisch von Exciting Commerce das Paketkasten-Desaster in Deutschland treffend beschrieben (hier geht es zum Artikel) . Seine Worte haben mich angeregt, unsere Milchkastensituation in der Schweiz aufzunehmen und zu hinterfragen.

Warum haben wir einen Milchkasten?

Ein Blick in die Gesetzes und Verordnungswelt unseres Landes zeigt, dass der Milchkasten mit den heutigen Dimensionen erstmals 1974 Eingang in unsere Gesetze bzw. Verordnung gefunden hat (übrigens wurde eine Woche später eine Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h vom gleichen Bundesrat beschlossen). Man versetze sich in diese Zeit zurück und kann den Sinn und Zweck dieser Gesetzgebung sehr gut verstehen. Ja, die Verordnung war visionär, vorausschauend aber auch irgendwie bewahrend. Sie hatte eines zum Ziel: Effizienz in der Zustellung der Post.

Quelle: Postverordnung

Visionäre Gesetzgebung

Visionär war sie (die Gesetzgebung), weil der Zugang trotz (im Nachhinein vielleicht auch wegen) Monopol der Schweizerischen Post offen gestaltet wurde. Jedermann konnte einer Person etwas in den abschliessbaren Briefkasten (klein) werfen oder etwas in den Ablage- oder eben Milchkasten (etwas grösser, nicht abschliessbar) legen. Vorausschauend war es, weil man vorweggenommen hat, dass gewisse Geschäfte einen grösseren Schutz verlangten (Bankbelege, Verträge, Geldauszahlungen etc.) und andere etwas weniger gewichtig waren (1 Liter Milch, 6 Eier). Bewahrend war die Gesetzgebung, weil in Zeiten von Duttis Migros und Co. dem produzierenden Gewerbe bis hin zur Tante Emma eine einfache Zustell-Option geschaffen wurde. Der Milchkasten wurde damit gesetzessprachlich auch zum Ablagekasten – die gesetzliche Umbenennung hat sprachhistorisch jedoch kaum etwas bewirkt, wir sprechen heute noch mit Hingabe vom „Milchchäschtli“.

Kleine Reminiszenz am Rande: Es wurde damals schon alles gegen Rechnung geliefert, der Lieferant führte ein sogenanntes Milchbüchlein, in welchem er fein säuberlich jede Lieferung nachgeführt und Ende Monat wurde abgerechnet! Somit wäre auch die Herkunft des Wortes «Milchbüchleinrechnung» geklärt und Wikipedia sei gebeten hier zu ergänzen!

Über die Jahre wurde der Milchkasten immer mehr zur Deponierung von Paketen und Kleinsendungen genutzt – die Verwendung zur Ablage von Milch, Eier und Käse nahm nicht zuletzt wegen der starken stationären Verbreitung von Migros, Coop, Volg und Co schnell ab. Nachdem über die Zeit gedruckte Zeitungen ihren Wert als Diebesgut verloren haben, wurde auch immer mehr Papier im Milchkasten abgelegt. In Ferienzeiten ohne Umleitungs- oder Rückhalteauftrag war der Milchkasten dann sozusagen der Überlauf des Briefkastens. Heute dürften 60 – 70 % der versandten B2C-Pakete im Milchkasten Platz haben, einige Schweizer Online-Händler haben gar ihre Kartons auf die maximale Dimension des Milchkastens ausgelegt (Nespresso). Der Milchkasten ist u.a. auch dafür verantwortlich, dass die Schweizerische Post eine Erstzustellquote von sagenhaften 94 % proklamiert!

So weit so gut – alles im Butter?

Nicht ganz! Nachdem immer mehr, immer mehr grössere und immer mehr wertvolle Pakete versandt werden ist der Milchkasten heute

  1. zu klein
  2. auch zum Objekt der Begierde von Gaunern und Betrügern geworden, da nicht abschliessbar

Der Briefkasten hingegen ist zu gross dimensioniert v.a. für diejenigen die keine Werbung mehr empfangen und auch keine gedruckte Zeitung mehr lesen. Es soll vorkommen, dass während Tagen nichts mehr im Briefkasten liegt, dafür umso mehr im Milchkasten.

Es wäre also höchste Zeit, sich mal über die politisch vorgegebenen Formate herzumachen und gleichzeitig einen Blick nach vorne zu werfen.

Das Milchchäschtli neu formatieren – ein paar Gedanken
  1. Brief: Zuerst sollte man sich überlegen, inwieweit die alten Formate zu überholen sind und ob es heute in neuen Überbauungen wirklich noch «alte Briefkastenanlagen» braucht. Benötigt wirklich jeder Haushalt ein riesiges Briefablagefach? Oder wäre es nicht zumindest überlegenswert die Vorgaben für das (nach wie vor personalisierte und abschliessbare) Brieffach zu redimensionieren?
  2. Pakete I: Die Formate passen nicht mehr. Mit ein wenig Vergrösserung des Ablagekastens wäre ein erster Schritt getan, um noch mehr Pakete im ersten Versuch ablegen zu können. Der Individualhaushalt kann selber bestimmen, was für eine Kleinanlage er haben möchte, die Grösse des Ablagefaches hat aber ein neues Mindestmass (grösser als heute).
  3. Pakete II: Abschliessbare Milchkästen wären heute keine Hexerei mehr. Es gibt einfache, günstige Schliessmechanismen, welche den Zugang erlauben bis etwas ins Paketfach gelegt wurde – ab jenem Zeitpunkt ist das Fach verschlossen und kann nur noch vom Eigentümer geöffnet werden. Die Firma Ernst Schweizer AG hat hierzu hervorragende Systeme entwickelt.
  4. Pakete II: Die Formate passen nicht mehr. Mit ein wenig Vergrösserung des Ablagekastens wäre ein erster Schritt getan, um noch mehr Pakete im ersten Versuch ablegen zu können. Der Individualhaushalt kann selber bestimmen, was für eine Kleinanlage er haben möchte, die Grösse des Ablagefaches hat aber ein neues Mindestmass (grösser als heute).
  5. Pakete III: Nicht personalisierte Ablagefächer sind die Zukunft. Damit Menge optimal verteilt wird sollten Überbauungen ab x Wohneinheiten einen Mix an verschliessbaren Paketfächern anbieten müssen. Man könnte bei Neubauten, Totalsanierungen solche Vorgaben nach und nach umsetzen (man beachte den Pragmatismus des BR im Jahr 1974). Es ist klar, dass dies nicht von heute auf morgen passiert – aber wenn nur schon jedes Jahr 2 – 3 % der Paketanlagen erneuert und angepasst würden, wäre den Zustellern geholfen. Evtl. kann über einen Zustellfonds (alle Zusteller zahlen einen Paket-Cent in einen Fonds – die Post verdoppelt den Fonds) solche Modelle schneller umgesetzt werden.
  6. Pakete IV: Verbot von proprietären Paketanlagen. Alle Paketanlagen sollen für jede Person und jedes Unternehmen zugänglich sein. Ich weiss, das ist eine schwierige Forderung, aber ich bin sicher, dass die Digitalisierung solche Möglichkeiten bietet (ähnlich Roaming oder Abgaben bei Fremdbankbezügen bei Maestro/Post). Denn nichts ist teurer als eine Zweitzustellung.

Natürlich wäre es toll, wenn alle Pakete individuell in die Wohnung / Auto / Garage etc. eines Kunden geliefert werden könnten. Amazon hat hier schon Vorstösse gemacht und versucht sich das Türschloss des Bürgers eigen zu machen. Hier fehlt mir als 50jähriger momentan der Glaube, dass das Vertrauen des Bürgers in den Zusteller so gross ist… aber ich kann mich auch täuschen
Ich weiss, einige Leser schütteln nun den Kopf. Wenn Sie damit fertig sind, schreiben Sie einen Kommentar und kritisieren Sie die wilden Gedanken. Seien Sie bitte aber auch konstruktiv und tragen Sie zum „Formatieren“ des neuen Milchkasten Schweiz bei. Ich wäre echt froh, wenn wir in 20 Jahren zurückblicken und feststellen könnten: Wir haben etwas verändert, das allen gedient hat. Vielleicht hilft es ja sogar den Bauern, dem Bäcker, dem Metzger oder wem auch immer aus Ihrer Gegend.

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