Das Gratis Dilemma – taugen alte Mittel?

Ja, die «Gratis-Mentalität» beschäftigt mich und einige Online-Händler fast täglich. Die Publikation der Zalando-Zahlen des 3. Quartals haben mich dann nochmals genauer hinschauen lassen: Konkret habe ich mich gefragt, welchen Impact der sinkende Warenkorbwert in Mio auf die Erfolgsrechnung hat und was man daraus lernen kann bzw. was der Grund dafür sein könnte.

Zuerst: Das ist keine Beurteilung ob gratis gut oder schlecht ist – auch wenn ich bekennender Fan von bezahlten Dienstleistungen bin. Gratis oder «all incl.» ist ein Kundenbedürfnis oder zumindest reagiert der Kunde positiv darauf und jedes Unternehmen MUSS sich die Frage immer wieder stellen, wie weit «all incl.» das Unternehmen bringen kann.

Alte Weisheiten

Der alte Versandhandel kannte bis 2010 im Normalfall Versandkosten und zum Teil Retourenkosten und/oder Mindestbestellwerte. Diese Haltung war einer rein betriebswirtschaftlichen Optik geschuldet – Kommissionieren und Versenden kostet, Retournieren sowieso. Oder salopp formuliert: In der Schweiz ein Paket (beim Brief ist es was anderes) mit einem Inhalt unter 20 CHF zu versenden ist auch in Zeiten der Skalierung im Normalfall nicht rentabel, einen relevanten Deckungsbeitrag auf einer solchen Transaktion zu erzielen ist eine Ausnahme und bedingt sehr hohe Margen.

Wenn wir nun die Vorzeigebeispiele Amazon, Zalando, Aliexpress und wie sie alle heissen nehmen wird klar: Gratis ist Pflicht, der Kunde erwartet es. Dies hat auch eine grössere Befragung der Schweizer Post bei mehreren Tausend Konsumenten ergeben. Wenn wir in die Vergangenheit dieser heute stark wachsenden Unternehmen schauen, dann scheint dies auch betriebswirtschaftlich zu funktionieren.Was nun aber sowohl bei Amazon als auch Zalando zu Tage tritt ist das Phänomen der sinkenden Warenkorbwerte.

Warum passiert das?

Ganz einfach: Der Konsument muss nicht mehr weiter denken als an sein T-Shirt, wekches er nun unbedingt haben muss. Oder die tollen Sneakers. Vergessen habe ich noch die Socken. Und morgen merke ich noch, dass ich ja noch eine Jeans brauche. Er verändert sein Verhalten zu Ungunsten des Händlers. Er bestellt zwar spontaner, öfter aber offenbar weniger pro Transaktion. Er muss beim Bestellen nicht mehr nachdenken, er handelt intuitiv, emotional, spontan aber loyal. Genau das was sich ein Händler wünscht. Er kreiert damit aber ein «Problem»: rasant steigende Fulfillment Kosten. Meine Bezeichnung: Fixe Transaktionskosten (ich weiss – ein Widerspruch, aber ich behaupte immer dass jedes Paket und jede Bestellung mit fast identischen Transaktionskosten belastet wird).

Die Frage aller Fragen

Wann fängt ein Unternehmen an den Konsumenten zu «erziehen»? Amazon versucht das «Problem» elegant mit Prime zu umgehen. Resultat: Die Prime-Gebühr steigt fast im Jahresrhythmus, der sinkende durchschnittliche Warenkorbwert und die entsprechenden Konsequenzen für die Kosten im Fulfillment werden so kompensiert. Amazon wird dafür bejubelt. Es sei erlaubt, die Prime-Sache mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: Ist dieser viel bejubelte «Lock-In Effekt» evtl. auch aus der Not heraus entstanden und die Zusatzleistungen sind die Deckungsbeitrags-Feigenblätter? Die Frage die sich hier aufdrängt: Wo liegt die Schmerzgrenze für den Konsumenten bei Prime, damit er sein Tun anfängt zu hinterfragen? Offenbar noch nicht genug hoch, die Anzahl Prime Kunden wächst ja immer weiter.

Kosten-Turbo

Ein kleiner Brandbeschleuniger für diese Entwicklung ist die Markplatzökonomie, sofern die Marktplatzteilnehmer auf das FBA oder FBZ (Fulfillment by Amazon oder Zalando) verzichten und Bestellungen gesplittet werden müssen. Natürlich geben die Marktplatzanbieter dieses «Risiko» an den Seller weiter, aber de facto treibt es für alle Händler die Fulfillment Kosten in die Höhe. Die grossen Profiteure dieser Markplatzökonomie sind die Postdienstleister.

Im Textilbereich wirkt das Gratis-Retournieren für die Fulfillment-Kosten als zusätzlicher Turboeffekt. Kleinere Bestellwerte bei gleicher wertmässiger Retourenquote lässt die Retourenpaketanzahl überproportional ansteigen.

Und nun, was tun?

Wie löse ich eine Gegenbewegung aus? Wie kann ich diesen Trend stoppen? Ganz spontan neigt man dazu mit alten Rezepten zu reagieren. Versandkostenfrei ab, Mindestbestellwert, kostenpflichtige Retouren und ähnliches sind dabei die ersten Gedanken. Nachdem der Konsument aber negativ auf diese Massnahmen reagiert, ist guter Rat teuer… . Am ehesten scheinen verhaltenspsychologische Massnahmen oder Belohnungen für das weitere Füllen des Warenkorbes angebracht, damit tut man dem Kunden nicht wirklich weh… die Retoure ist ja eh gratis. Im Bereich des Retourenmanagements hat Thilo Pfrang von BSC St.Gallen in einer bemerkenswerten Studie aufgezeigt, wie man mit wenigen «Kniffen» das Verhalten der Kunden in Bezug auf Retouren positiv beeinflussen kann, ohne damit die Nachfrage zu gefährden. Hier müsste im Umkehrschluss auch in der Beeinflussung des Bestellverhaltens etwas möglich sein, Experimente dazu sind gefragt.

Fast jeder Online-Händler leckt sich bei Umsatzwachstum von 15 % und mehr die Finger. Wenn aber die Fulfillment Kosten im gleichen Ausmass nach oben schnellen wie der durchschnittliche Warenkorb nach unten geht, dann sind Ideen, Kreativität und Experimente gefragt. Ob Prime-Modelle, Belohnungen, psychologische Anreize oder dann halt auch alte Rezepte angewandt werden sollen muss sich jedes Unternehmen selber überlegen. Wichtig ist, dass man solche «Warenkorb-Absacker» von Anfang an einkalkuliert und einen Plan hat, wie man damit umgeht. Denn eines ist sicher: Wenn man einmal «gratis» angefangen hat, bringt man es kaum mehr aus den Köpfen seiner Kunden!

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